Jahreslosung 2021

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Liebe Gemeinde,

mit der Jahreslosung 2021 aus Lukas 6,36 stellt Jesus uns eine Aufgabe.

Gerade jetzt, möchte man sagen, in Zeiten, wo die Coronakrise so unbarmherzig nach uns greift und das Urteil über die poltischen Verantwortungsträger immer unbarmherziger wird. Gerade jetzt, könnte man denken. Und vielleicht soll es auch gerade jetzt sein.

Gerade euch, möchte Jesus sagen, denn die Feldrede (Lukas 6) gilt seinen Jüngern. Wir, die wir die Barmherzigkeit Gottes verkünden sollen, sollen zuerst Barmherzigkeit leben, damit wir nicht anderen predigten und selbst verwerflich lebten (1. Korinther 9,27). Ja, ohne Barmherzigkeit wären wir blind, führt Jesus fort, blinde Blindenführer (Lukas 6,39).

Der Unterschied zwischen der Welt und der Gemeinde ist die Barmherzigkeit. Die Welt ist berechnend. Die Gemeinde ist barmherzig.

Die Welt ist dabei durchaus gut – berechnend gut. Gut sein zahlt sich aus – in Gegenleistung, in Dank, in gutem Gefühl, in der Selbstbestätigung, zu den Guten zu gehören. Es ist nichts Außergewöhnliches, sagt Jesus. Menschen sind gut, wenn es sich auszahlt.

Wenn Gemeinde barmherzig ist, führt sie Menschen zum Vater. Wenn sie es nicht mehr ist und zum Rechthaber wird, wird sie zum Verführer, führt sich und andere von Gott weg, ins Grab, in den Abfall (V. 39). Der Erblindungsprozess aber startet dort, wo man beim anderen die Splitter im Auge zählt und nicht die Balken im eigenen erkennt (V. 41-42).

Wenn Jesus seinen Jüngern so harte Worte mit auf dem Weg gibt, sieht man auch, was Barmherzigkeit nicht heißt: Es heißt nicht über Schuld und Schaden hinwegzugehen. Was aber heißt Barmherzigkeit?

Am besten erklärt Barmherzigkeit eine der bekanntesten Geschichten Jesus selbst: die Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37). Dieser Samariter erbarmt sich, ist barmherzig, indem er seinem Feind, dem Juden, vergibt, und indem er ihm dann auch folglich Hilfe und Geld gibt, und zwar nicht berechnend, sondern soviel es brauchen wird. Vergeben und Geben – daraus besteht Barmherzigkeit. Und wer vergibt, gibt auch.

Der Samariter handelt nicht nach dem Motto „wie du mir, so ich dir“, sondern hat das Gebot der Nächstenliebe verinnerlicht: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“ (3. Mose 19,18). Es ist die positive Überbietung der landläufigen Formel „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Es ist die Umsetzung des Maßstabes Jesu: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch“ (Lukas 6,31). Bei Nächstenliebe geht es nicht um die Vermeidung des Bösen, sondern um die Suche nach dem Guten. Sie bringt die Welt voran. Sie rettet. Sie kommt unverdient daher. Sie nennt man Barmherzigkeit.

Und doch hat diese Barmherzigkeit einen Ursprung. Jesus lenkt unseren Blick auf ihn: die Barmherzigkeit des Vaters. Barmherzigkeit ist der Name Gottes von jeher. Die Tat der Barmherzigkeit steht am Anfang der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Er erbarmt sich über ihr Schreien in der Sklaverei und rettet sie aus dem Sklavenhaus Ägypten. Als der Barmherzige stellt er sich dann ihnen als erstes am Sinai vor: „HERR, HERR, Gott, barmherzig…“ (2. Mose 33,6).  

Das Wort „Barmherzigkeit“ bringt dabei zweierlei zum Ausdruck: Zum Einen ist Barmherzigkeit immer Gnade, immer unverdiente Herablassung Gottes zu uns. Zum Anderen steht sie für tiefe Verbundenheit. „Gebärmutter“ ist der hebräische Begriff, aus dem sich Barmherzigkeit ableitet. So wie eine Mutter mit ihrem Kind im Bauch verbunden ist, so ist Gott mit uns verbunden. Und so wie ein Kind sich die Zuwendung der Mutter verdienen kann, so schenkt Gott uns seine Zuwendung immer wieder. „Barmherzigkeit“, so loben Maria und Zacharias in ihren Lobgesängen, ist die Eigenschaft Gottes, die Israel durch die Zeiten trägt und führt und der Welt Erlösung bringt.

Wie aber entsteht diese Barmherzigkeit bei uns? Sie entsteht beim Blick auf die Barmherzigkeit Gottes, der sich unserer angenommen hat, trotz aller Undankbarkeit ihm gegenüber mit der wir durch die Welt gehen, der uns gut ist, obwohl unsere Bosheit gegenüber seiner Welt nicht endet, der uns nicht anrechnet, dass wir die Nabelschnur gekappt haben, unverbunden, ohne Bündnis mit ihm leben wollen, keinen Wert auf ihn legen.

Barmherzigkeit entsteht auch, wenn wir es uns zur Gewohnheit machen, Gott häufiger um Erbarmen für uns zu bitten, als ihm zu danken, dass wir nicht so sind wie die Welt (Lukas 18,9-14). Wir sind es sonst nicht und unser Herz verändert sich dann nicht einmal durch unser Gebet. Nur wer merkt, wie viel ihm Gott vergeben hat, wie groß Gottes Liebe ihm gegenüber sein muss, liebt auch selbst viel. Nur bei demjenigen, der selbst von der Barmherzigkeit lebt, verkommt Barmherzigkeit nicht zum billigen Mitleid mit den armseligen Kreaturen dieser Erde, die es nötig haben.

Wenn wir die Barmherzigkeit Gottes bei uns entdecken, dann verändert sie unser Herz. Dann werden wir dankbar gegen Gott, ehrlich zu uns selbst und barmherzig gegenüber anderen. Dann verstehen wir, warum wir Gott täglich um Vergebung bitten und anderen vergeben sollen, warum „mein Brot“ mir als „unser Brot“ gegeben ist.

Barmherzigkeit ist dann von einer Aufgabe zu einen Gabe Gottes geworden, die uns einzig und allein verwandelt (Römer 12,1). Barmherzigkeit ist dann vom Paradigma zum Paradies geworden: „Selig sind die Barmherzigen“ (Matthäus 5,7). Barmherzigkeit ist das, woraus wir leben. Sie ist das, was wir leben sollen. Es ist das, was wir erleben werden.

Barmherzigkeit ist die Art und Weise, in der uns Gott auch 2021 behandeln wird. Sie in den Blick zu nehmen ist uns geboten, es zu tun verheißungsvoll. Sie kann uns verändern. Sie kann Leben glücklich machen und mit ihr glückt Gemeinschaft. Sie ist alles, was wir brauchen.

Ich wünsche euch ein barmherziges neues Jahr!